1) Urteile des BVerwG vom 06.04.2017, Az. 3 C 13.16 und 3 C 24.15
Im Verfahren BVerwG 3 C 24.15 hatte das Strafgericht die Klägerin wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr nach § 316 StGB verurteilt und ihr nach § 69 StGB die Fahrerlaubnis entzogen, da sich aus der Tat – Blutalkoholkonzentration (BAK) von 1,28 Promille – ergebe, dass sie zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet sei. Als sie die Neuerteilung beantragte, erhielt sie von der Fahrerlaubnisbehörde gestützt auf § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d i.V.m. Buchst. a der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) die Aufforderung, ein medizinisch-psychologisches Fahreignungsgutachten (MPU) vorzulegen. Im Verfahren BVerwG 3 C 13.16 hatte das Strafgericht dem Kläger die Fahrerlaubnis bei im Übrigen gleichem Sachverhalt wegen einer Trunkenheitsfahrt mit einer BAK von sogar „nur“ 1,13 Promille entzogen.
Hinweis: Die Entscheidung der Frage, ab welchem Grenzwert alkoholbedingte absolute Fahruntüchtigkeit eines Kraftfahrers im Sinne der §§ 315 c Abs. 1 Nr. 1a, 316 StGB anzunehmen ist, lässt sich nur unter Heranziehung medizinisch-naturwissenschaftlicher Erkenntnisse treffen. Der Bundesgerichtshof bestimmte demnach den auch heute geltenden Grenzwert von 1,1 (Grundwert 1,0 plus Sicherheitszuschlag) neu: Urteil vom 28.06.1990, Az.: 4 StR 297/90.
In beiden Fällen ist die Klage auf Erteilung der Fahrerlaubnis ohne vorherige MPU in den Vorinstanzen (VG München bzw. Regensburg, sodann BayVGH) ohne Erfolg geblieben. Anders das Bundesverwaltungsgericht. Es ist der (zutreffenden) Auffassung, dass gem. § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV eine einmalige Trunkenheitsfahrt OHNE das Hinzutreten weiterer aussagekräftiger Tatsachen erst ab einer BAK von 1,6 Promille die Anforderung einer MPU rechtfertigt. Die strafgerichtliche Entziehung einer Fahrerlaubnis wegen einer Trunkenheitsfahrt ist – wie die Bezugnahme in § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d FeV auf die unter den Buchstaben a bis c genannten Gründe zeigt – kein eigenständiger, von der 1,6 Promille-Grenze unabhängiger Sachgrund für die Anforderung eines Gutachtens. Im Strafverfahren ist der Täter bei einer Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB) „in der Regel“, also ohne das Hinzutreten weiterer belastender Tatsachen, als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen (§ 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB).
2) Urteil vom 17.03.2021, Az. 3 C 3.20
Kein Bruch mit der Rechtsprechung des Senats aus 2017, sondern dessen konsequente Fortsetzung vollzog sich nun am 17. März d.J.: Hier ging es nun darum, dass die Dinge anders liegen, wenn ZUSÄTZLICHE TATSACHEN die Annahme von künftigem Alkoholmissbrauch begründen.
Gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV durfte die Beklagte (Fahrerlaubnisbehörde) auf die Nichteignung des Klägers schließen, da er ihr kein positives medizinisch-psychologischen Gutachten vorgelegt hatte. Sie hatte von ihm auf der Grundlage von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV zu Recht die Beibringung eines solchen Gutachtens gefordert. Nach dieser Regelung ordnet die Behörde zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Erteilung einer Fahrerlaubnis an, dass ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen ist, wenn sonst Tatsachen die Annahme von Alkoholmissbrauch begründen. Alkoholmissbrauch im fahrerlaubnisrechtlichen Sinne liegt vor, wenn das Führen von Fahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher getrennt werden können.
Aus dem Wortlaut, der Systematik und der Entstehungsgeschichte von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a und c FeV lässt sich nicht entnehmen, dass dem Buchstaben c eine „Sperrwirkung“ in dem Sinne zukommt, dass bei einer einmaligen Trunkenheitsfahrt mit einer Blutalkoholkonzentration unter 1,6 Promille und Anhaltspunkten für eine überdurchschnittliche Alkoholgewöhnung ein Rückgriff auf § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV ausscheidet. Bei Personen, die aufgrund ihres Trinkverhaltens eine hohe Alkoholgewöhnung erreicht haben, besteht eine erhöhte Rückfallgefahr. Die Giftfestigkeit führt u.a. dazu, dass der Betroffene die Auswirkungen seines Alkoholkonsums auf die Fahrsicherheit nicht mehr realistisch einschätzen kann. Deshalb liegt in dem Umstand, dass der Betroffene trotz eines bei seiner Trunkenheitsfahrt mit einem Kraftfahrzeug festgestellten hohen Blutalkoholpegels keine alkoholbedingten Ausfallerscheinungen aufwies, eine aussagekräftige Zusatztatsache im Sinne von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c Alt. 2 FeV. Dieser zusätzliche tatsächliche Umstand rechtfertigt auch mit Blick auf den Buchstaben c, der demgegenüber allein das Erreichen von 1,6 Promille genügen lässt, die Anforderung einer MPU. Nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand kann von einer außergewöhnlichen Alkoholgewöhnung ausgegangen werden, wenn der Betroffene bei seiner Trunkenheitsfahrt eine BAK von 1,1 Promille oder mehr aufwies. Außerdem muss festgestellt und dokumentiert worden sein, dass er dennoch keine alkoholbedingten Ausfallerscheinungen zeigte. Diese Voraussetzungen waren im Falle des Klägers (dem zuvor der VGH Kassel noch gefolgt war) erfüllt.
Hinweis: Jedem kann geholfen werden. Zunächst ist zu prüfen, welche Schlüsse aus dem Tatverhalten zu ziehen sind, erst strafrechtlich (möglichst milde Ahndung) und dann fahrerlaubnis-, also verwaltungsrechtlich. Dazu gehört standardmäßig auch die Akteneinsicht. Sollte eine MPU unumgänglich sein, lässt sich diese vorbereiten. Dies kann Entzug (Entgiftung), Abstinenz (Screening) und verkehrspsychologische Schulung bedeuten. Der Aufwand lohnt dann in jeder Hinsicht, nicht nur für den begehrten Verwaltungsakt der Neuerteilung der Fahrerlaubnis.